Integrität
Was ist Integrität und warum ist sie in Beziehungen so wichtig? Nein, nicht nur wichtig – sie ist ausschlaggebend, damit eine Beziehung funktioniert. Zumindest eine langfristig zufriedenstellende.
Integrität wird definiert als das Übereinstimmen der Ideale, Werte und Normen mit der tatsächlichen Lebenspraxis.
Ich definiere Integrität noch ein Stückchen unkomplizierter: Das Gesagte stimmt mit dem Gemachten überein. Grob gesagt: Man labert nicht nur, man macht es auch.
Wir alle kennen Menschen, die ganz viel erzählen und ganz wenig machen. Das sind die Entertainer, die Schwätzer – quasi das Pendant zum Visionär: der Illusionär. Um die geht es hier eher weniger; wir reden über Beziehungen, die unser tägliches Leben definieren – mit dem Partner, mit den Freunden, auf der Arbeit und überall sonst in unserem Alltag.
Jeder hat es selbst schon mal erlebt, dass wir etwas gesagt oder versprochen haben und es dann nicht gemacht haben. Manchmal nimmt man sich etwas vor und schafft es einfach nicht – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Das kann uns allen passieren, und davon ist nicht die Rede. Die Rede ist eher davon, wenn Reden stets Programm ist und Machen stets ausbleibt.
Darunter fallen alle Beziehungen, wo ein Part die Integrität sehr ausdehnt, weil dieser ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt: nicht das zu machen, was man sagt – also: Täuschen. Manchmal passiert es sogar unterbewusst, wenn sich Menschen selbst täuschen und das demnach auf die Umgebung projizieren. Somit ist es weniger böswillig erzielte Täuschung. Aber ob es bewusst oder unbewusst ist – das Resultat ist dasselbe: Täuschung. Wenn der andere Part dann langsam merkt, dass das Gesagte nicht mit dem Gemachten übereinstimmt, schleicht sich etwas ganz Unangenehmes ein: Dieser fühlt sich enttäuscht.
Und wie die wunderbare Soziologin (RIP) Vera F. Birkenbihl mal sehr prägnant erläutert hat: Enttäuschung kommt, wenn das Täuschen vorbei ist und man die Realität vor Augen hat. Der Schleier der Täuschung verschwindet – man ist dann buchstäblich ent…täuscht.
Damit wir erst gar nicht in die Bredouille kommen, irgendwelche Schleier aus unserem Visier entfernen zu müssen, um eine glasklare Sicht auf die Täuschung zu gewinnen, empfiehlt es sich, schon vorher zu schauen, ob das Täuschen eher die Realität ist.
Egal, ob im Arbeitskontext, beim Dating, in der Partnerschaft, der Familie oder in Freundschaften – die Frage soll immer präsent sein: Stimmt denn das Gesagte mit dem Gemachten überein? Denn ja, manchmal spielt das Leben einem einen ganz hart aufprallenden Ball zu; dieser kommt unerwartet und haut einen mit voller Wucht um. Dann kann man das Gesagte oder Versprochene nicht einhalten. Und der Schlüssel liegt im kleinen Wörtchen manchmal. Wenn manchmal sich stetig von immer wieder zu immer transformiert, dann gibt es offensichtlich ein Problem. Und das müssen wir uns anschauen.
Wenn jemand ständig nur „jaja, ich mach das“ sagt, es aber beim Gesagten bleibt, ist nicht das, was er sagt, ausschlaggebend, sondern das, was er nicht macht. Denn Kohlendioxid zu produzieren, während man seine Stimmbänder benutzt, um Laute zu formen, das kann sogar ein Papagei oder ein Rabe. Was Menschen von einem Vogel unterscheidet, ist das Machen. Und manche Menschen machen halt einfach nicht.
Wenn dir auf der Arbeit jahrelang eine Beförderung versprochen wird, aber nichts kommt, dann kommt auch nichts. Achte darauf, dass nichts kommt – nicht darauf, was an Lauten imitiert wird. Denn das Nichts ist ausschlaggebend, nicht das Bald.
Wenn du jahrelang in einer Beziehung auf den nächsten Schritt wartest, aber nichts kommt, dann kommt auch nichts. Der Stillstand ist Realität, nicht die Imagination und das Potenzial. Und sogar wenn diese lang ersehnte Beförderung oder der nächste Schritt kommt, dann kommt es keinesfalls so, wie du es dir vorgestellt hast – denn es gab ja Gründe, warum du so lange in diese gähnende Leere der Versprechungen gestarrt hast.
Und dann ist man ent…täuscht. Egal, ob das, was gesagt wurde, schließlich eingehalten wird oder nicht. Enttäuschung ist prädestiniert, wenn keine Integrität praktiziert wird. Und wenn Integrität dann erzwungen werden muss, kommt dabei eine verkrüppelte Version von dem, was gewünscht war, heraus. Und was folgt daraus? Richtig: das Entfernen der Verhüllung der Täuschung – die Enttäuschung.
Deshalb ist es essenziell, das volle Gewicht bei der Beurteilung der Integrität eines Arbeitgebers, eines Partners, eines Freundes immer auf das Tun zu legen – nicht auf das Sagen. Und das Wichtigste hierbei: die notwendigen Schritte zu unternehmen, um SEINE eigene Integrität zu wahren. Denn Integrität kann man von anderen nicht erwarten, wenn man selbst nur theoretisch integer ist. Das heißt: selbst genau das machen, was man sagt.
Die wichtigste Variable in unserem Leben ist Zeit. Wir können alles auf diesem Planeten haben und erreichen – das Einzige, was uns nie wieder gelingt, zurückzubekommen: die Jahre, die wir mit Enttäuschungen verschwenden. Wir können es im Nachhinein als „Erfahrung“ klassifizieren, sagen, dass es uns zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind. Das ist alles korrekt. Aber wenn wir sehr, sehr, sehr ehrlich zu uns selbst sind: Wenn wir vorher wüssten, dass wir ent…täuscht werden, hätten wir es nicht gemacht und die Erfahrung lieber auf eine weniger enttäuschende Weise gesammelt. Und hier sage ich nicht, dass der andere Part daran schuld ist, dass man so lange in diesen Verhältnissen verharrt. Ich sage, dass es wichtig ist, Verantwortung für sich zu übernehmen und zu handeln, wenn man keine Integrität spürt.
Das kann man sehr gut lösen, indem man seine Erwartungen an eine Beziehung bereits vorab kommuniziert. Im Arbeitsverhältnis BEVOR es zu einem zustande kommt, klar definieren, welche Erwartungen daran geknüpft sind und was die Konsequenzen sind, wenn diese nicht getroffen werden. Wer hat gesagt, dass nur der Arbeitgeber mit Konsequenzen drohen kann, wenn die versprochene Leistung nicht erbracht wird?
Was ist mein Ziel? Ist man froh, überhaupt angestellt zu werden – klar, dann ist es okay. Dann ist das Ziel: Arbeit finden und behalten. Weiß man schon vorher, dass man gern im Unternehmen wachsen will, sich weiterentwickeln will – dann ist das Ziel: Wachstum und Progress. Wenn man das nicht vorab klarstellt oder vereinbart, muss man nichts erwarten. Wenn man es vorher klargestellt hat, bestenfalls eine Deadline gesetzt hat, entsprechende Leistung gezeigt hat, gutes Feedback hat – aber nichts kommt, dann ist das die unmissverständliche Antwort und nicht das Versprechen vorab.
In einer Beziehung oder Freundschaft muss KLAR kommuniziert werden, welche Werte, Normen und Erwartungen man hat – und dass man denen und nicht dem Potenzial treu bleiben wird. Und hierbei geht es nicht darum, Druck auszuüben und Menschen zu überrollen. Es geht darum, offen und ehrlich damit umzugehen, was man will.
Das Kommunizieren seiner Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen ist das Rezept für das Zustandekommen eines gesunden Verhältnisses. Wie heiß dann gekocht und gegessen wird, entscheidet die Integrität. Wenn viel heiße Luft um nichts produziert wird, ist man mit der Vorstellung, dass alles schon irgendwie, irgendwann, irgendwo so werden wird, wie man es sich erhofft hat, auf dem falschen Dampfer.
Wir klammern uns zu sehr an diese Illusion der Versprechen, statt der Realität knallhart ins Auge zu blicken – weil es unangenehm oder sogar schmerzvoll ist. Daher wählen wir eher den bequemeren Weg der Hoffnung, der erträglicher ist, statt den harten Weg, die Konsequenz umzusetzen. Und so verbleiben wir dann in Beziehungen, die auf nichts anderem als auf Wunschvorstellungen basieren, weil die Realität wehtut. Und so lassen wir uns freiwillig weiterhin täuschen, weil auch wir das Machen fürchten. Und so macht de facto niemand etwas – weder der Viel-Sager noch der Viel-Warter. Und so nimmt Letzterer diese Täuschung in Kauf, maskiert sie dann als „Sicherheit“ – und auf dem Preisschild dieser vermeintlichen Sicherheit steht fettgedruckt seine Gesundheit, der Selbstwert und die Lebenszeit.
Bis dann schlussendlich die Zeit an Übermacht gewinnt und der Schmerz des Bleibens größer ist als der Schmerz des Gehens. Dann handelt meist der, der das Warten satt hat.
Man sollte keine Angst davor haben, die Integrität so früh es geht und immer wieder auf die Probe zu stellen. Und wenn man konstant keine Übereinstimmung zwischen Sagen und Machen sieht: zu gehen. Die einzige Frage, die dabei eine Rolle spielt, ist: Ist es meine Zeit wert? Denn ich werde sie nie, nie, nie wieder zurückbekommen.
Integre Strukturen fürchten sich nicht davor, geprüft zu werden. Nur die, die Worte als einziges Instrument zur Aufrechterhaltung der Beziehung nutzen und für die Taten ein Fremdwort sind …
Was heruntergebrochen schlicht Täuschung ist – und absolut nichts anderes.
Alle, die nach diesem Prinzip vorgehen, sind die, die man meiden sollte. Wir haben keine Zeit für Enttäuschungen. Und je schneller man das erkennt, desto mehr Zeit gewinnt man, um diese in integre, aufrichtige und ehrliche Beziehungen zu investieren, die auf Vertrauen, Verbindung und Integrität basieren.